Die Welt des Richard Serra

*1938 San Francisco †2024 Long Island, New York



Leben und Werk


Während seines Studiums der englischen Literatur in Berkeley und Santa Barbara (1957-1961) jobbte Serra in Stahlwerken, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Neben dem Studium der bildenden Kunst (1961-1964) an der Yale University in New Haven/Connecticut arbeitet er mit Josef Albers an dessen Buch "Interaction of Color" (1963).

Mitte der 1960er Jahre experimentieren Richard Serra und andere amerikanische Künstler mit industriellen Werkstoffen wie Blei und Gummi. 1966 fertigte Serra seine erste Skulpturen aus Fiberglas und Gummi. Von 1968 bis 1970 führte eine Reihe von "Platsch"-arbeiten aus, in denen geschmolzenes Blei in Kante zwischen Wand und Boden geworfen oder gegossen wurde. Er wird aufgrund dieser frühen Arbeiten oft der Prozesskunst zugerechnet.

Besser bekannt ist Serra jedoch für seine kühnen Konstruktionen aus geschmiedeten und gewalzten Stahlplatten, die - extrem reduziert in der Form - sich die Materialeigenschaften des für die moderne Welt so bedeutsamen Baumaterials zu Nutze machen.

In Deutschland ist es 1968 die Galerie Rolf Ricke, Köln, die Serra eine erste Einzelausstellung widmet. Auf der documenta 5 1972 in Kassel stellt Serra Circuit [Abbildung: siehe moma.org oder Situation Kunst, Bochum] aus - eine der ersten konsequent raumbezogenen Arbeiten Serras. Vier Stahlbleche, je 2.40 m hoch, stehen diagonal im Raum; in die vier Ecken "eingeklemmt", werden sie lediglich durch die Wände des Raums gehalten. Das Werk bestimmt den gesamten, nun viergeteilten Raum und dessen Wahrnehmung. Ein Gesamtbild kann sich für den Begehenden nicht einstellen; das kann nur die Vogelperspektive leisten - zu dem Preis allerdings, dass die räumliche Situation auf eine zweidimensionale Ansicht verkürzt wird. Der Betrachter wird versuchen - indem er zwischen den Stahlplatten umher geht -, die Eindrücke aus jeweils einzelnen Perspektiven im Geiste zu einem mehr oder weniger adäquaten mentalen Abbild der räumlichen Situation zusammenzusetzen. So klar und einfach die Installation konstruiert ist, so groß ist für den Begehenden das Gefühl des Kontrollverlusts - bis hin zu der psychischen Herausforderung, diesen riesigen schweren Stahlplatten in dem kleinen Raum ausgeliefert zu sein: der Besucher muss sich darauf verlassen, dass die Wände die Platten halten; einer umstürzenden Platte hätte er nichts entgegenzusetzen. Ab 1975 arbeitet Serra mit Alexander v. Berswordt-Wallrabe, Galerie m Bochum, zusammen. Den Berlin Block for Charlie Chaplin für die Neue Nationalgalerie Berlin lässt er 1977 in der Henrichshütte der Hattinger Thyssen-Stahlwerke schmieden - der Beginn einer langen und fruchtbaren Zusammenarbeit bei der Fertigung von Serras Skulpturen. Mit seiner Arbeit Terminal für die documenta 6 in Kassel wird Serra europaweit bekannt.

Serra lebt und arbeitet in Tribeca / New York und auf Cape Breton Island / Nova Scotia (Kanada).



Wirkweise seiner Stahlskulpturen

»Im Grunde möchte ich Skulpturen machen,
die für eine neue Art von Erfahrung stehen,
die Möglichkeiten von Skulptur eröffnen,
die es so bislang nicht gab.«
[Richard Serra]

Serras Arbeiten stehen für eine suchende Erkundung durch den Besucher und seine aktive Beteiligung. Ebenso sehr wie Form und Material ist der Betrachter selbst das Subjekt: wenn er sich in Bezug zur Form, zum Raum, zu Zeit und Ort erfährt. Dem Besucher, der das Werk lediglich passiv betrachtet, wird sich diese Dimension des Werks nicht erschließen.

Die vertikalen Außenraum-Props wie z.B. Terminal (1977), T.W.U. (1980), Fulcrum (1987) oder Torque (1992) funktionieren durch eine Balance der gewichtigen Stahlplatten, die ihren Halt lediglich dadurch finden, dass sie sich gegenseitig stützen. Das Tragen, Lasten und Balancieren der enormen Gewichte wird verstandesmäßig erfahrbar. Die vertikalen Außenraum-Props bilden - gleichsam wie ein Zelt - einen abgeschirmten Innenraum, der zur Begehung einlädt. Der Kunstspaziergänger, der sich darauf einlässt, erfährt einen sehr privaten Raum - inmitten des lauten öffentlichen Stadtraumes ringsum.

In einer nächsten Werkphase entstehen Arbeiten aus durch Walzen gekrümmten Stahlplatten, so etwa Trunk (1987) Intersection (1992), Viewpoint (2006) und insbesondere The Matter of Time (2005). Die gebogenen Stahlplatten sind selbsttragend, im Ensemble entstehen Zwischenräume, die zur Begehung einladen. Den Besucher, der sich darauf einlässt, erwartet eine ungewohnte Raumerfahrung, von beklemmenden bis hin zu befreienden Empfindungen. Bei The Matter of Time ist gar der Gleichgewichtssinn gefordert, weil man sich - ohne die gewohnten rechten Winkel - bewusst orientieren muss.



Rezeption seiner Stahlskulpturen

Serras Stahlskulpturen für den öffentlichen Raum führten regelmäßig zu scharfen Reaktionen.

1977 etwa konzipierte er für die Documenta VI in Kassel das Werk „Terminal“, vier trapezförmige Platten aus wetterfestem Stahl (COR-TEN-Stahl). Vor dem Fridericianum, dem zentralen Ausstellungsgebäude, aufgestellt, wurde es zum „Wahrzeichen“ dieser Documenta. "Nach langen Verhandlungen und begleitet von heftigen Protesten wurde „Terminal“ von der Stadt Bochum 1979 erworben und schließlich an dem von Richard Serra favorisierten Standort, einer Verkehrsinsel am Bochumer Hauptbahnhof, installiert. Die CDU machte im Landtagswahlkampf eine Kampagne gegen die Installation in Bochum. Der damalige Kandidat Kurt Biedenkopf hielt direkt vor der Plastik am Bochumer Hauptbahnhof eine Rede, in der er deren Abriss ankündigte." [Quelle: Wikipedia]

Im selben Jahr erhielt Serra im Rahmen des „Art in Architecture Program“ der U.S. General Services Administration den Auftrag für eine ortsspezifische Skulptur auf dem „Federal Plaza“ in New York. Das Werk „Tilted Arc“, ein 37 m langer und 3.50 m hoher, etwas geneigter Stahlbogen, 1981 fertiggestellt, war so plaziert, dass sich vorbeilaufende Menschen damit formal und optisch auseinandersetzen mussten. Vom ersten Tag an gab es, insbesondere von Seiten der in den umliegenden Büros Arbeitenden, Beschwerden, dass die Skulptur sowohl die Sicht als auch die Überquerung des Platzes teilweise blockiere bzw. verhindere. Es gab Protestaktionen und eine öffentliche Anhörung kam 1985 zu dem Schluss. dass das Kunstwerk entfernt werden sollte. Serra aber wand ein, dass die Skulptur ortspezifisch sei und nicht einfach an einem anderen Platz aufgestellt werden könne. Seine Feststellung "Das Werk zu entfernen heißt, es zu zerstören" wurde später oft im Zusammenhang mit ortspezifischer Kunst zitiert. Im März 1989 schließlich wurde die Skulptur von bundesstaatlichen Arbeitern abgebrochen und wie Schrott entsorgt. [ Mehr: Jennifer Mundy: Lost Art: Richard Serra. Tate Gallery ]

Gegner sagen üblicherweise, dass Serras Arbeiten die Umgebung weniger ansprechend machen. Die, die ihn bewundern, wiederum sagen, dass er - mit industriellen Mitteln - eine neue Art Schönheit entstehen lässt und dass seine Skulpturen, auf den erste Blick starr, in Wirklichkeit dynamisch sind und damit die Steifheit der urbanen Räume aufbrechen. Trotz ihrer Masse besitzten diese Skulpuren oft eine visuelle Spannung, die die Umgebung in Bewegung setzt.

»In seinen Stahlskulpturen lässt Serra das Industriell-Gewichtige
in einer überraschenden Eleganz auftreten. Es ist gerade
die Verbindung von faktischer Sperrigkeit und illusionärer Leichtigkeit,
die diese Arbeiten so faszinierend macht.«
[Sinngemäß aus dem Englischen,
De Pont Museum of Contemporary Art, Tilburg/Niederlande]

»Eine edle Einfalt, eine stille Grösse.«
[Johann Winckelmann (1717 - 1768)]

Diese Formel stellte Winckelmann dem Verspielten, Überladenen und Allegorischen des Barock und Rokoko entgegen. Für ihn war es die höchste Aufgabe der Kunst, die Schönheit darzustellen. Sein Bild der römischen und griechischen Antike beeinflusste sehr wesentlich den Geist des deutschen Klassizismus.



Ehrungen und Preise

1964/65 Paris-Aufenthalt mit einem Stipendium der Yale University
1966 Einjähriger Aufenthalt in Florenz mit einem Fulbright-Stipendium
1970 Teilnahme an der Biennale von Tokyo; Guggenheim-Stipendium
1975 Skulpturenpreis der Skowhegan School of Painting and Sculpture
1972 Teilnahme an der documenta 5, Kassel (mit der Arbeit Circuit)
1977 Teilnahme an der documenta 6, Kassel (mit der Arbeit Terminal)
1981 Goslarer Kaiserring
1983 Einzelausstellung im Centre Pompidou, Paris
1984 Einladung zur Biennale von Venedig
1985 Carnegie-Medaille
1986 Retrospektive im Museum of Modern Art, New York
1987 Teilnahme an der documenta 8, Kassel (mit den Arbeiten Street Level und Spiral Sections)
1991 Wilhelm-Lehmbruck-Preis für Skulptur der Stadt Duisburg
1992 Retrospektive im Centro de Arte Reina Sofia, Madrid;
Preis des Sculpture Center, New York
1994 Praemium Imperiale
1998 Einzelausstellung im MOCA Museum of Contemporary Art in Los Angeles
1999 Einzelausstellung im Museum Guggenheim Bilbao
2001 Einladung zur Biennale von Venedig
2003 Ernannt zum Mitglied des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste
2007 Retrospektive im Museum of Modern Art, New York
2008 Ernannt zum Commandeur de L'Ordre des Arts et des Lettres
2010 Prinz-von-Asturien-Preis für die Künste
2014 Alexej-von-Jawlensky-Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden

Serra wurde in die American Academy of Arts and Letters aufgenommen ebenso wie in die Akademie der Künste Berlin.

Für eine ausführliche Biografie siehe



Literaturhinweise

[MCRB 2007] Kynaston L. McShine, Lynne Cooke, John Rajchman, Benjamin H. D. Buchloh: Richard Serra - Sculpture: Forty Years (Ausstellungskatalog Museum of Modern Art, New York). Thames & Hudson, 2007, 420 Seiten, 26.9 x 25.9 x 4.6 cm (in Englisch)
[Oet 1999] Javier Barrallo, Francisco González-Quintial, Santiago Sánchez-Beitia (Universität des Baskenlandes): Geometry Experiments with Richard Serra’s Sculpture. Proceedings of Bridges: Mathematics, Music, Art, Architecture, Culture, 2013
[SFFMW 1998] Richard Serra, Hal Foster, Russell Ferguson, Anthony McCall, Clara Weyergraf-Serra: Richard Serra. Sculpture 1985-1998 (Ausstellungskatalog). The Museum of Contemporary Art, Los Angeles 1998.
[Bro 1994] Christoph Brockhaus (Hrsg.): Richard Serra. Props. Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg, Düsseldorf 1994. (mit Texten von Rosalind Krauss, Manfred Schneckenburger, Richard Serra)


Weiterführende Hinweise




Dr. Emden-Weinert created: 2009/1/8, last changed: 2022/06/25