Die Welt des Bernar Venet

*20. April 1941 in Château-Arnoux/Frankreich, lebt und arbeitet in New York City



Leben

Venet studierte zunächst an der städtischen Schule für Gestaltende Kunst in Nizza. 1959/60 arbeitete er als Bühnenbildner an der Oper von Nizza. Nach seinem Wehrdienst begann er, künstlerisch zu arbeiten und widmete sich der Malerei, Zeichnung und Fotografie und konzipierte ein Ballett. Eine Serie von Gemälden aus Teer entsteht 1961; seine erste Skulptur ist 1963 ein Kohlehaufen ohne besondere Form - auf den Boden geschüttet.

»Einen Haufen Kohle zu zeigen bedeutete für mich, eine Skulptur auszustellen, die - zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst - keine bestimmte Form hatte. Die Kohle, zufällig zu einem Haufen zusammengeschaufelt, befreite die Skulptur vom vorgefassten Begriff einer durch den Künstler herbeigeführten Komposition.«
[Bernar Venet]

1964, 1965 und 1967 nahm er an den Ausstellungen im Salon Comparaisons des Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris teil. 1966 siedelte Venet nach New York über und wurde Teil der dortigen minimalistischen Avantgarde-Szene: mit Dan Flavin, Donald Judd und Sol LeWitt war er befreundet und tauschte Arbeiten aus. Wie sie interessierte er sich für Skulptur, die aus sich selbst heraus definiert ist, die - beispielsweise im Gegensatz zu expressionistischer Malerei - nichts ist außer sie selbst, die also z.B. nicht dem Zweck dient, Gefühle zu transportieren. Solche Kunst, deren Konstruktion einem logischen Gesetz entspringt, das zuvor festgelegt wurde, und dem es dadurch gelingt, subjektive Befindlichkeiten auf Seiten des Künstlers auszuschließen, bezeichnet Venet als rational.

»Man kann Kunst nicht länger empirisch entwickeln.«
[Bernar Venet]

1968 war er an der Prospect 1968 in der Kunsthalle Düsseldorf beteiligt, an der u.a. auch Carl André, Joseph Beuys, Christo, Walter De Maria oder Robert Smithson teilnahmen. 1970 lud ihn Paul Wember zu seiner ersten Einzelausstellung ins Museum Haus Lange nach Krefeld ein. 1971 der Bruch: Venet zog sich konsequent von jeglicher künstlerischen Tätigkeit zurück und konzentrierte sich auf kunsttheoretische Fragen. Er kehrte nach Paris zurück und lehrte an der Pariser Universität Sorbonne Kunst und Kunsttheorie und gab Vorlesungen in England, Italien, Polen und Belgien. Im September 1976 schließlich geht Venet nach New York zurück und beginnt wieder, künstlerisch zu arbeiten; es entstehen Holzreliefs: Bögen, Winkel, gerade Linien. 1979 erschafft er die erste seiner "Unbestimmten Linien" - und schafft damit einen Antipoden zur mathematischen Strenge in seinem Werk: das Unbewusst-Gestische, das Unberechenbare. In den 1980er Jahren entwickelt er dann jene minimalistischen Stahlskulpturen, für die er international bekannt wird: mal Kreisbögen, mal Spiral- oder Schraublinien, später oft Arrangements aus solchen, die trotz ihrer Masse leicht wirken. Die Mathematik dient Venet dabei als formale Inspirationsquelle. In Deutschland wird er 1987 bekannt mit seiner 12 m hohen Arbeit Arc 124,5°, die das französische Außenministerium der Stadt Berlin anlässlich ihrer 750-Jahr-Feier schenkt. 1989 kauft er eine alte Fabrik und Wassermühle in Le Muy, Südfrankreich, heute Sitz der Venet Foundation. Auf Einladung von Jacques Chirac, damals Oberbürgermeister von Paris, stellt Venet 1994 zwölf monumentale Stahlskulpturen auf den Champs de Mars aus. Diese Ausstellung ist der Startschuss für Open-Air-Ausstellungen seiner Arbeiten in zahlreichen Großstädten (und Aufträge) auf der ganzen Welt. Bis heute arbeitet Venet auch in Malerei, Poesie, Film und Performance.

1977 war Venet Teilnehmer der documenta 6 in Kassel, 1978 nahm er an der Biennale Venedig teil. 1993 führte ihn eine große Retrospektive, ausgerichtet vom Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain Nice, ins Wilhelm-Hack-Museum nach Ludwigshafen am Rhein. Immer wieder ist er auf den Blickachsen in Bad Homburg vor der Höhe und im Rhein-Main-Gebiet vertreten. 2011 bespielt er die Wiese vor dem IG-Farben-Haus auf dem Campus Westend der Universität Frankfurt mit einer eindrucksvollen Solo-Schau. Seine Werke sind in Europa, den USA und Neuseeland öffentlich aufgestellt, Museen auf der ganzen Welt widmen ihm Ausstellungen.

Werk

Venet ist fasziniert von mathematischen Formeln und Symbolen - die er in den späten 1960ern Jahren gar in den Rang eines Kunstwerk erhob und als solche - großformatig - ausstellte. Im Gegensatz zur Vieldeutigkeit der Welt und all den Unwägbarkeiten des Alltags liefert die Mathematik ein (extrinsisches) System, bei dem jedes Faktum (nur) eine einzige, genau begrenzte Bedeutung hat. So ist ein Kreisbogen beispielsweise festgelegt durch die entsprechende mathematische Formel plus eine konkrete Angabe (das Datum) für den Parameter 'Mittelpunktswinkel' (und den Radius). Eine solche mathematische Beschreibung gestattet es beispielsweise, eine Form computergesteuert mit höchster Präzision maschinell zu fertigen (CNC-Maschinen). Erst recht die Digitalisierung und insbesondere der 3D-Druck lassen die Grenze zwischen nackten Daten (oder "Information") hier und materialer Manifestation dort verschwimmen. (Man vergleiche auch mit dem menschlichen Gehirn, das unsere Vorstellungen von realen Objekten ausbildet durch Neuronen und Synapsen dazwischen.)

Mit Nichten ist allerdings eine Kreisbogen-Skulptur von Venet schon durch ihren Werktitel beschrieben, der in minimalistischer Kürze lediglich darüber Auskunft gibt, wie viel Grad (bezogen auf den vollen Kreis) der Bogen entspricht. (Den jeweiligen Mittelpunktswinkel will Venet dabei zufällig bestimmt haben.) Die Erfahrung vor Ort ist eine ganz andere, die Wirkung eines Arc's von Venet entspringt vielmehr der wahrgenommenen Härte und Schwere des Materials Metall, der Anmut und Größe der gerundeten, aber unvollkommenen Kreisbogenform - die der Betrachter im Geiste zum Kreis vollendet denkt - wie auch der Exaktheit der Ausführung, insbesondere an den Kanten. Die Werkgruppe der Bögen bezieht ihre Kraft mithin gerade aus der Spannung zwischen der unpersönlichen Setzung (geometrische Form, wie durch eine Formel beschrieben, plus Angabe eines Mittelpunktswinkels) und der subjektiven und individuell unterschiedlichen Wirkung auf den Betrachter. Die Mathematik dient Venet als formale Inspirationsquelle. Venet über den Künstler:

»Seine Nachforschungen sollten nicht als ihr Ziel haben, das, was er weiß und was er daher ist, zu bestätigen. Man muss diese statische Kohärenz, die einem in sich geschlossenen System entspricht, meiden.«
[Bernar Venet]

Neben die Rationalität der geometrischen Form tritt ein weiteres konstitutives Element im Werk Venets: der Zufall. In einem Happening lässt er zahllose schwere Vierkantstähle, die nebeneinander aufrecht an der Wand lehnen, mit Getöse umstürzen, indem er einen von ihnen anstößt und dieser dann die anderen wie Dominosteine in Bewegung setzt. Die Prozedur ist kalkuliert, der Ausgang unbestimmt. Später stellt Venet identische Kreisbögen parallel hintereinander, wobei jeder einzelne Bogen wie zufällig gegenüber den anderen verdreht ist. Mehr oder weniger irregulär sind schließlich seine »lignes indéterminées« (unbestimmte Linien): ein oder zwei Vierkantstähle, die durch Walzen spiralförmig gebogen sind, z.T. in sich verdrillt, z.T. verkantet. indéterminées = unbestimmt: schon die Bezeichnung deutet darauf hin, dass der Verlauf dieser Linien eher zufälligen Gegebenheiten im Arbeitsprozess (und menschlicher Intuition) entspringt, denn durch eine mathematische Formel (exakt) definiert ist. Sie stehen für das Unbewusst-Zufällige, das Unberechenbare in Venets Werk. Gleichwohl wird der Betrachter die »Unbestimmten Linien« stets sofort als Spirale (bzw. als Schraublinie) erkennen, d.h. auch ihnen ist das geometrische Konzept einbeschrieben.

Rationalität, Materialität und Zufall: zwischen diesen drei Polen bewegt sich das Werk. Man mag darin ein Stück weit auch die menschliche Grundbefindlichkeiten gespiegelt sehen: wenn auch ein perfekter Entwurf Modell stehen mag - an dem wir uns orientieren -, so macht doch möglicherweise erst die Abweichung von der perfekten Form den Menschen zum Menschen? ...eine Begegnung reizvoll? ...und eine Spirale zum Kunstwerk? Bis hin zur Frage: inwieweit entsteht individuelle Meisterschaft im Leben erst dadurch, dass man mannigfältige Einflüsse ("Konzepte") aufnimmt und auch mal eine Phase der "Unordnung" - im Sinne eines Bewusstseinsfindungsprozesses - zulässt? Persönlichkeiten mit bewegter Vita oder harten Prüfungen im Leben können da Bände sprechen. Welche Bedeutung also räumen wir dem Zufall in unserem Leben ein? Die Vorstellung, dass alles auch ganz anders sein könnte, erst macht uns bewusst, wie sehr wir einem - mehr oder weniger fixen - Konzept unseres Lebens anhaften. Wie wir dieses Selbstkonzept jeden Tag (unbewusst?) konstruieren. Und wie sehr es uns möglicherweise einschränkt.

»Künstler sein heißt zu suchen,
auf die Gefahr hin, dass man sich verläuft...
Allein auf dem falschen Weg zu sein,
ist besser als mit den anderen zu gehen.«
[Bernar Venet, 1993]



Auszeichnungen und Ehrungen

1974 Venet vertritt (zusammen mit Honegger und Morellet) Frankreich auf der 13. Biennale in São Paulo
1979 Stipendium der National Endowment for the Arts
1988 Design Award für Bildhauerei, Norfolk
1989 Grand Prix des Arts de la Ville de Paris
1996 Chevalier des Arts et Lettres (verliehen durch den Kultusminister von Frankreich)
1997 Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Salzburg, Österreich
2005 Chevalier de la Légion d’Honneur (verliehen durch die französische Regierung)
2006 Robert-Jacobsen-Preis der Würth-Stiftung
2009 53. Biennale von Venedig
2013 Julio Gonzalez International Prize, Institut Valencia d ´Art Modern (IVAM), Valencia
2016 Lifetime Achievement in Contemporary Sculpture Award, International Sculpture Center


Einzelausstellungen (Auswahl)

1964 Galerie Ursula Girardon, Paris
1970 Museum Haus Lange, Krefeld;
Kunsthaus Hamburg
1971 Cultural Center, New York
1975 Museu de Arte Moderna, Río de Janeiro
1976 La Jolla Museum of Contemporary Art, Kalifornien
1977 Musée d'Art Moderne, Saint-Étienne/Frankreich (ebenso 1998)
1987 Museum Quadrat, Bottrop
1988 Graduation (ein modernes Ballet, entstanden 1966), Oper von Paris
1993 Retrospektive im Musée d'Art Moderne et d'Art Contemporain, Nizza (ebenso 2003) / Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen
1994 Museo de Arte Moderno de Bogotá/Kolumbien;
Nationalmuseum für Gegenwartskunst, Seoul/Süd-Korea (ebenso 2007)
1995 Kunstmuseum, Hongkong;
Kunstmuseum, Schanghai/China
1997 Musée de Peinture et de Sculpture, Grenoble;
Musée National des Beaux-Arts, Quebec/Kanada
1999 Musée d'Art Moderne et d'Art Contemporain, Genf
2000 Museu de Arte Moderna, Río de Janeiro;
Museu Brasileiro da Escultura, Sao Paulo
2002 Centre Georges Pompidou, Paris;
Ludwig Museum, Koblenz
2003 Jardin des Tuileries, Paris
2005 Museum Würth, Künzelsau
2007 Museum Küppersmühle, Duisburg
2008 Kunsthalle Darmstadt
2009 Palais des Beaux-Arts, Brüssel
2010 Krauthügel, Salzburg;
Retrospektive zu Venets Konzeptkunst und Malerei im IVAM, Valencia
2011 Blickachsen 8 (Installation mit neun Skulpturen vor dem IG-Farben-Haus, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Campus Westend), Frankfurt am Main;
Chateau de Versailles (Installation mit sieben Skulpturen);
Kunstmuseum Seoul, Südkorea
2012 Aukland, Neuseeland
Hong Kong Cultural Centre und Museum of Arts Piazzas, Hongkong
Helsinki, Finnland
2013 Meijer Gardens, Frederik Meijer Gardens & Sculpture Park, Grand Rapids, USA
Institut Valencia d´Art Modern, Valencia, Spanien
2018 Bernar Venet rétrospective 2019-1959, Musée d'Art Contemporain (MAC), Lyon
Bernar Venet. Les années conceptuelles 1966-1976, Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain (MAMAC), Nizza
2022 Bernar Venet 1961 - 2021. 60 Jahre Performance, Bilder und Skulpturen. Flughafen Tempelhof, Berlin, Hangar 2 und 3. Ein Projekt der Stiftung für Kunst und Kultur, Bonn. Die bisher größte Retrospektive des französischen Künstlers zeigt seine Vielseitigkeit und versammelt auf 8.000 Quadratmetern über 150 Werke, darunter auch zwei seiner Performances. [Deutsche Welle, 28. Januar 2022] [DEED.News, 8. Januar 2022] [Interview mit Bernar Venet und Kurator Walter Smerling, Stiftung für Kunst und Kultur Bonn, rbb, 29. Januar 2022]


Weiterführende Hinweise

[Ven] BernarVenet.com - offizielle Webseite des Künstlers
[WK 22] Bernar Venet 1961-2021: 60 Jahre Performance, Bilder und Skulpturen. Flughafen Tempelhof, Berlin, Hangar 2 und 3. Buchhandlung Walther König, Berlin, 2022   [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, mit einer Einleitung von Walter Smerling, Beitrag von Déborah Laks, Interview von Hans Ulrich Obrist. 25 x 29.8 cm, 336 S., zahlreiche großformatige, meist farbige Abbildungen, broschiert, deutsch und englisch]
[ttt 14] Besuch im Skulpturenpark im südfranzösischen Le Muy:

ttt, 31. August 2014
[DW 13] Bernar Venet - Gewinner des Julio Gonzalez International Prize 2013:

DW News, 15. März 2013
[Len 07] Thierry Lenain: Bernar Venet. Flammarion, Paris, 2007 (320 S., in Englisch)
[Weltkunst 2022] Bernar Venet im Gespräch mit Lisa Zeitz, WELTKUNST-Podcast #15, anlässlich der Retrospektive Bernar Venet 1961 - 2021. 60 Jahre Performance, Bilder und Skulpturen im alten Flughafen Tempelhof, Berlin, 2022
[Scheffel] Bernar Venet. Galerie Scheffel, Bad Homburg vor der Höhe. Venet ist regelmäßig an der Biennale 'Blickachsen' beteiligt.
[Fri 09] Nat Friedman: Bernar Venet at omi : line and arcs. Hyperseeing, 2009. Zur Ausstellung zweier Skulpturen im "The Fields Sculpture Park" am Omi International Arts Center in Ghent, New York





Dr. Emden-Weinert created: 2011/04/17, last changed: 2022/05/18